Die bildlichen Zeugnisse der römischen Kaiserzeit zeigen Orpheus vor allem als Sänger unter den friedlichen, seinem Trauergesang zuhörenden Tieren. Sein Versuch, Eurydike aus der Unterwelt zu befreien, wurde vor allem in der neuzeitlichen Rezeption des antiken Mythos bevorzugt, in der römischen Antike fand diese Episode - zumindest in der bildlichen Kunst - eine geringere Beachtung. Auf welche Weise der Kitharöde vor den Karren sensationsgieriger Unterhaltung der Massen gespannt wurde, schildert am anschaulichsten eine Stelle im dem Dichter Martial zugeschriebenen Liber de spectaculis: Dort wurde beschrieben, wie in der Arena eine Kulisse aus Felsen und einem Wald herbeigeschoben wurde und diese künstliche Landschaft mit Tieren verschiedenster Art belebt wurde. Man beachte aber die lapidare Schlußbemerkung, in der beklagt wird, dass der als Orpheus verkleidete Sänger tot und von einem Bären erschlagen dalag und dass in diesem Detail die mythische Vorlage nicht eingehalten wurde! Ein vergleichbares Veranstaltungsprogramm drücken Mosaikböden aus Rottweil und Horkstow aus, wo die Darstellungen mit Zirkusrennen gepaart sind, oder jene aus Kos, wo es mit Gladiatorenkämpfen zusammensteht. Auch das vielfach zu bemerkende gleiche Tierrepertoire von Orpheus-Mosaiken auf der einen und Jagd- wie Arenadarstellungen auf der anderen Seite drückt nicht nur eine formale Gemeinsamkeit aus, sondern läßt auch eine ganz ähnlich gelagerte und unmittelbar benachbarte Vorstellungswelt erahnen. Dass dies nicht nur eine gelehrte archäologische Interpretation ist, kommt ganz deutlich in einer Stelle bei Varro, de re rustica III 13,3 über die Wildfütterung im Garten des Hortensius zum Ausdruck: Die Versammlung der Tiere unter den musischen Klängen des Orpheus wurde sofort mit einer venatio im Circus assoziiert, wobei letztere freilich durch das Vorhandensein afrikanischer Tiere überlegen war.
Quellen
Martial, de spectaculis liber XXI:
Quidquid in Orpheo Rhodope spectasse theatro
dicitur, exhibuit, Caesar, harena tibi.
Repserunt scopuli mirandaque silua cucurrit,
quale fuisse nemus creditur Hesperidum.
Adfuit inmixtum pecori genus omne ferarum
et supra uatem multa pependit auis,
ipse sed ingrato iacuit laceratus ab urso.
Haec tantum res est facta παρ᾽ ἱστορίαν.
„Was das Rhodope-Gebirge in der Orpheus-Szene gesehen haben soll, hat jetzt die Arena dir, Cäsar, geboten. Felsen krochen heran, ein Zauberwald eilte herbei, so schön, wie man sich den Hesperidenhain vorstellt. Wilde Tiere aller Art waren da, den Haustieren zugesellt, und über des Sängers Haupt schwebten zahlreiche Vögel. Doch er selbst lag da, zerfleischt von einem undankbaren Bären. Dieser Vorfall nur wich von der mythischen Erzählung ab.“
Martial, de spectaculis liber XXIb:
Orphea quod subito tellus emisit hiatu
ursam elisuram, uenit ab Eurydice.
„Wenn die Erde plötzlich aufklaffend Orpheus herauskommen ließ, kam er - wen wundert’s - von Eurydike aus der Tiefe."
Martial X 20 (19), 4–9:
Altum vincere tramitem Suburae.
Illic Orphea protinus videbis
Udi vertice lubricum theatri
Mirantisque feras avemque regis,
Raptum quae Phryga pertulit Tonanti;
…|Hat man erst die Subura geschafft,| ist es wenig Mühe, den steilen Pfad zu bewältigen| dort wirst du gleich Orpheus sehen |schlüpfrig von dem Dache des Theaters |und die staunenden Bestien und den königlichen Vogel|, der den geraubten Phryger dem Donnerer brachte; … (Übers. P. Barié - W. Schindler)
Varro, de re rustica III 13,3:
Ego uero, inquit ille, apud Q. Hortensium cum in agro Laurenti essem, ibi istuc magis θρακικῶς fieri uidi. Nam silva erat, ut dicebat, supra quinquaginta iugerum maceria saepta, quod non leporarium, sed therotrophium appelabat. Ibi erat locus excelsus, ubi triclinio posito cenabamus. (3) Quo Orphea vocari iussit. Qui cum eo venisset cum stola et cithara cantare esset iussus, bucina inflavit, ut tanta circumfluxerit nos ceruorum aprorum et ceterarum quadripedum multitudo, ut non minus formosum mihi visum sit spectaculum, quam in Circo Maximo aedilium sine Africanis bestiis cum fiunt venationes.
„Ich aber, sagte jener, wenn ich bei Quintus Hortensius auf seinem laurentinischen Besitz war, dort habe ich eine Veranstaltung gesehen, die noch mehr thrakisch war. Wie er sagte, war dort nämlich ein Wald von über 50 iugera von einer Mauer eingezäunt, den er nicht Hasengehege, sondern Tiergehege nannte. Dort gab es eine hervorgehobene Stelle, wo wir auf einem installierten Triklinium speisten. An diesem Platz befahl er nun, daß Orpheus gerufen werde. Als dieser mit Stola und Kithara herbeikam, begann er auf Geheiß zu singen und blies das Horn, daß sich eine so große Menge von Hirschen, Wildschweinen und sonstigen Vierbeinern um uns versammelte, daß es mir nicht weniger schön erschien als es eine Veranstaltung ist, wie die Jagden, die ein Ädil im Circus Maximus gibt, aber ohne afrikanische Tiere."
Darstellungen
Avenches. - Kos. - Leptis Magna, Mosaik. - Mainz. - Ptolemais, Mosaik. - Rottweil. - Yvonand-La Baumaz.
Literatur
Zum Orpheus-Mythos allgemein:
R. Boehme, Orpheus, Der Sänger und seine Zeit (Bern/München 1970); ders., Der Sänger der Vorzeit (Bern/München 1980); E. Schwartz, Aspects of Orpheus in Classical Literature and Mythology (Diss. Harvard University 1984); P.-L. Rinuy, L’imagerie d’Orphée dans l’Antiquité. Revue d’archéologie moderne et d’archéologie generale 4, 1986, 298–314; F. Graf, Orpheus – A Poet among Men, in: J. Bremmer (Hrsg.), Interpretation of Greek Mythology (London 1987) 80 ff.; M. Wegner, Orpheus, Ursprung und Nachfolge, Boreas 11, 1988, 177 ff.; Ch. Segal, Orpheus, The Myth of a Poet (Baltimore 1989); E. Henry, Orpheus with his Lute (London 1992).
Zu Veranstaltungen mit einem Orpheus:
G. Wille, Musica Romana (Amsterdam 1967) 158 ff.; K.M. Coleman, Fatal charades. Roman executions staged as mythological enactments, JRS 80, 1990, 51 (JSTOR); Chr. Kondoleon, Signs of Privilege and Pleasure: Roman Domestic Mosaics, in: E.K. Gazda (Hrsg.), Roman Art in the Private Sphere. New Perspectives on the Architecture and the Decor of the Domus, Villa, and Insula (Ann Arbor 1991) 106 ff.; E.W. Merten, Venationes in der Historia Augusta, in: Beiträge zur Historia Augusta Forschung. Bonner Historia-Augusta-Colloquium 1986/89, Antiquitas IV/21 (Bonn 1991) 1991 155 ff.; W. Weeber, Panem et circenses. Massenunterhaltung als Politik im antiken Rom (Mainz 1994) 29; D. Flach, Marcus Terentius Varro Gespräche über die Landwirtschaft, Buch 3, Texte zur Forschung, 67 (Darmstadt 2002) 260 ff.; R. Gogräfe, Die Wiedergeburt des Mainzer Orpheus (Mainz 2007) 51-57.
Zu Orpheus-Darstellungen:
G. Guidi, Orfeo, Liber Pater e Oceano in Mosaici dell Tripolitania, Africa Italiana 6, 1935, 110–155; J. Thirion, Orphée magicien dans la mosaïque romaine, A propos d’une nouvelle mosaïque d’Orphée découverte dans la région de Sfax, Mélanges de l’École Française à Rome, Antiquité 27, 1955, 149–179; H. Stern, La mosaïque d’Orphée de Blanzy-les-Fismes, Gallia 13, 1955, 41–77; L. Foucher, La mosaïque d’Orphée de Thysdrus, in: M. Renard (Hrsg.), Hommages à Albert Grenier II. Collection Latomus 58 (Brüssel 1962) 646–651; E.R. Panyagua, Catalogo de representaciones de Orfeo en el arte antiguo III, Mosaicos romanos, Helmantica 23, 1973, 433–498; U. Liepmann, Ein Orpheus-Mosaik im Kestner-Museum zu Hannover, Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 13, 1974, 1 ff.; H. Stern, Les débuts de l’iconographie d’Orphé charmant les animaux, in: P. Bastien - F. Dumas (Hrsg.), Mélanges de numismatique, d’archéologie et d’histoire offerts à Jean Lafaurie (Paris 1980) 157–164; I. Jesnick, The mannerist depiction in Orpheus mosaics, in: VI. Coloquio Internacional sobre mosaico antiguo, Palencia – Merida Octubre 1990 (Guadalajara 1994) 333-342; I. Jesnick, The Image of Orpheus in Roman Mosaic – An Exploration of the Figure of Orpheus in Graeco-Roman Art and Culture with Special Reference to its Expression in the Medium of Mosaic in Late Antiquity. BAR Int. Ser. 671 (Oxford 1997).
Horkstow:
S. Lysons, Reliquiae Britannico-Romanae I 1 (London 1813) Taf III; Stern, Orphée 76 Nr. 43; D.J. Smith, Three Fourth-Century Schools of Mosaic in Roman Britain, in: La mosaïque greco-romaine. Colloques internationaux du Centre national de la recherche scientifique, sciences humaines, Paris 29 Août–3 Septembre 1963 (Paris 1965) 98 Abb. 1; ders., Roman Mosaics: the Mosaics of Rudston, Brantingham, and Horkstow (Kingston upon Hull 1976) 23 ff. Abb. 3 Taf. IX; ders., Orpheus Mosaics in Britain, in: Mosaïque. Recueil d’Hommages à Henri Stern (Paris 1983) 315 ff. Taf. CCVII; Jesnick, Orpheus 143 Nr. 81; 217 Abb. 51; 237 Abb. 94; 240 Abb. 101; 250 Abb. 116; LIMC VII 92 Nr. 120 Abb. s. v. Orpheus (M.-X. Garezou); D.S. Neal - St.R. Cosh, Roman mosaics of Britain, I. Northern Britain (London 2002) 148 ff. Nr. 53.1 Abb. 112-113.